Spiritualität

still sein und warten

Eine Geschichte
10.3.2025

Eine Geschichte

Der Einsiedler ging wie jeden Morgen durch die Berge zum Brunnen. Er nahm eben den Eimer und schöpfte Wasser, als einige Touristen vorbeikamen. Sie fragten ihn: Was machst du hier? Er antwortete: Ich schöpfe Wasser! Nein, du verstehst uns falsch! Was tust du hier in den Bergen? erwiderten sie. Ich schöpfe Wasser, blieb seine Antwort. Die Wanderer schüttelten den Kopf und versuchten es noch einmal: Warum lebst du hier? Der Einsiedler lächelte und wies auf den Brunnen: Was seht ihr in dem Brunnen? Die Besucher beugten sich vor und sahen hinein: Das Wasser ist von dem Eimer aufgewühlt und unklar. Wir sehen nichts. Eine lange Weile schwieg der Einsiedler und bat sie dann, noch einmal in den Brunnen zu sehen. Die Wanderer wagten einen zweiten Blick, hielten inne und einer berichtete: Das Wasser ist ruhig geworden und glatt. Es ist so glatt, dass ich mich selbst in dem Wasser sehen kann. Und wenn ich in die Tiefe schaue, sehe ich den Grund. Der Einsiedler nickte: Genau dies mache ich hier. Ich lebe in der Stille und warte, bis in mir alles ruhig und klar geworden ist. Dann erkenne ich mich selbst. Manchmal aber schaue ich in den Grund des Lebens. Er nahm seinen Eimer und ging seinen Weg.

(Quelle: Rüdiger Maschwitz, „Das Herzensgebet“, 2005)

Ähnliche Artikel

No items found.
Alle Artikel